Konzept

Affekte, Gemütsbewegungen, Leidenschaften sind Gegenstand diskursiver Kontrollen und gesellschaftlich-ökonomischer Codierungen. Norbert Elias hat den Prozess der Zivilisation an die Zunahme der Affektkontrolle gebunden. Im Kontext dieser Geschichte der Affektregulierungen nimmt das Werk Kleists eine Sonderstellung ein, werden darin doch immer wieder Affekte aus ihren diskursiv-sozialen Verankerungen und dem Gehäuse der Innerlichkeit in eine Äußerlichkeit gerissen. Liebe, Hass und andere Emotionen sind dann keine Gefühle mehr, sondern flottierende Affekte – austauschbar, wie ‚Küsse‘ und ‚Bisse‘ in Kleists Drama Penthesilea, oder schwankend, wie in seiner Familie Schroffenstein, wo im Affekttaumel ein Totschlag „aus Versehen“ geschieht.
Die Kleist-Forschung hat dieses besondere Verhältnis Kleists zu den Affekten verschiedentlich schon zu ihrem Gegenstand gemacht, wenn sie z. B. nach dem Verhältnis Kleists zur rhetorischen Tradition (insbesondere zur Affektenlehre) oder nach seinem Verhältnis zur romantischen Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts gefragt hat. Während die ältere Forschung Kleist oft nur in diesem Zusammenhang interpretiert hat, betont demgegenüber die neuere Forschung die Unterschiede zwischen Kleist und dem emotionalen Stil der Romantik, wenn sie (wie beispielsweise das Kleist-Jahrbuch 2008/09) direkt nach ‚Kleists Affekten‘ fragt.
Anknüpfend an solche Forschungsergebnisse will sich das Symposium aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive mit der Problematisierung der Affekte bei Kleist auseinandersetzen. Erkenntnis neuerer kulturwissenschaftlicher Forschung ist es, dass die Zeit um 1800, die ja als Übergangszeit zur Moderne gilt, nicht zuletzt durch fundamentale Änderungen in den emotionalen Begriffen und Semantiken bestimmt war: Vor allem ist hier der Aufstieg des ‚Gefühls‘ zu beobachten, welches im Laufe des 18. Jahrhunderts als moralisches und ästhetisches Gefühl reflektiert wird und von den – oft mit der antiken Rhetorik verbundenen – Affekten abgegrenzt wird, die abgewertet werden. Kant beispielsweise nennt die Affekte ‚unbesonnen‘, während er ‚Gefühle‘ als eine Leistung der Vernunft honoriert.
Im Zusammenhang mit diesen kulturhistorischen Bestimmungen werden im Symposium, vor allem auch unter Einbeziehung neuerer Theorieansätze, die Affekte im Werk Kleists neu beleuchtet: So werden diese Affekte im Spannungsverhältnis zur Gefühlsökonomie der Romantik und ihren Codierungen im romantischen Diskurs über die Liebe literaturhistorisch analysiert. Kleists Penthesilea ist ein Paradebeispiel für die semiotische Verunsicherung, die um 1800 zwischen den Geschlechtern um sich greift. Kleists Haiti-Novelle Die Verlobung in St. Domingo wird aus postkolonialer Perspektive untersucht mit der Frage, wie im Verhältnis zwischen den ‚Rassen‘ der Affekt der Abjektion wirksam wird. Das Erdbeben in Chili wird als originelle Fortsetzung der Paradies-Geschichte gelesen. Schließlich wird das spezifisch Kleist’sche ‚Rechtgefühl‘, am Beispiel seines Michael Kohlhaas diskutiert.

ABSTRACTS

Yixu Lu (University of Sydney / JSPS-Stipendiatin an der University of Tokyo / Komaba):
Der amouröse Diskurs in Kleists Penthesilea
Der Vortrag beschäftigt sich mit der Interaktion zwischen Sprache und Affekten, was an der Penthesilea vorgeführt wird, der letzten Tragödie, die Kleist vollendet hat. Sie kann daher, was die Intensität der Affekte betrifft, als ein gewagtes Experiment aufgefasst werden, das Kleist nicht noch einmal wiederholt hat. Bezeichnend ist, dass Kleist mit der Konvention bricht, Leidenschaften als eine „Krankheit der Seele“ zu betrachten. Affekte werden als ein „Freund des Feindes“ im eigenen Inneren dargestellt (wörtlich in Penthesilea und im Manuskript Familie Ghonorez), als etwas Zwiespältiges, Misstrauen gegenüber sich selbst Erregendes, das erst nachträglich sprachlich reflektiert und ergründet werden kann.
In der Forschung wurde bereits auf das symmetrische Versagen der Kommunikation auf dem „Schlachtfeld“ der Gefühle hingewiesen. Zärtlichkeit und Mordlust bestehen in Penthesilea unmittelbar nebeneinander. Was im Text, d. h. in Penthesileas Rede zwangsläufig als Sequenz erscheint, ist eigentlich ein Nebeneinander gegensätzlicher Gefühle. Man könnte diesbezüglich von der Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen sprechen. Nachdem Penthesilea Achill in wilder Raserei getötet hat und wie aus einem Traum erwacht, erscheint ihr die Gräuel-Tat wie ein Rätsel. Wenn im Folgenden das „Greuel-Rätsel“ etappenweise enträtselt wird, dann so, dass die gegensätzlichen Aspekte von Penthesileas gespaltenem Wesen in ihrer ganzen Unverträglichkeit exponiert werden. Nachdem sich Penthesilea ihrer Tat langsam bewusst wird, eine Träne vergießt und eine rituelle Selbstreinigung vollzieht, so bleibt die Katharsis, die sich zeitweilig einstellt, dennoch flüchtig und bringt keine wirkliche Erleichterung. Stattdessen drängt der Affekt des Ekels nach außen. Offen aber bleibt die Frage, wie Penthesileas Schlussmonolog und Freitod zu verstehen sind. Bei der Beantwortung wäre zu berücksichtigen, dass in der Phase des Ekels sich die Funktion der Sprache verändert, denn sie dient nicht mehr dazu, das Geschehen und die Motive der Tat zu verschleiern. In der direkten Konfrontation mit der Leiche des Geliebten wird die Sprache von einer schonungslosen Wirklichkeit erfasst, die keinen anderen Ausweg zulässt, als das Todesurteil über sich selbst zu verhängen.
Als renommierte Kleist-Forscherin eröffnet Prof. Lu mit ihrem Vortrag das Symposium und leitet in das Thema „Interaktion zwischen Sprache und Affekt“ ein. Dabei konzentriert sich der Vortrag auf die letzte von Kleist vollendete Tragödie Penthesilea, die als ein gewagtes Experiment hinsichtlich der Affketdarstellung gelesen wird. Kleists Divergenz von der konventionellen Gestaltung tragischer Affekte, die in dem Stück Penthesilea in aller Deutlichkeit zum Ausdruck kommt, wird zum Ausgangspunkt für vergleichbare Affekt-Konstellationen bzw. Inszenierungen von Gefühls- und Gewaltausbrüchen, wie man sie in den Erzählungen Das Erdbeben in Chili oder Michael Kohlhaas finden kann.

Thomas Schwarz (University of Tokyo):
„Begierde und Angst“. Die Abjektion gegen Hybridität in Kleists Haiti-Novelle
Der Vortrag thematisiert die Dynamik von Vertrauen und Misstrauen in Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“. Die Novelle antwortet auf eine Frage, die sich kolonisierenden Mächten im Zusammenhang mit der sexuellen Hybridisierung stellt: Auf welche Seite schlägt sich ‚der Bastard‘ in der antikolonialen Rebellion? Die „Mestize“ Toni, Tochter eines Franzosen und einer schwarzen Sklavin, gerät in einen Loyalitätskonflikt: Der Rebellenführer Congo Hoango kritisiert sie als „Bundbrüchige“, die Mutter klagt sie als „Verräterin“ an. Die hybride Figur Toni entscheidet sich zwar für eine Identität als „Weiße“. Doch der Schweizer Kolonialsoldat Gustav tötet sie im Affekt, was gewöhnlich als Resultat einer Vertrauenskrise behandelt wird.
Die These ist, dass das Vertrauen Gustavs in Toni unterminiert wird durch eine reflexartige Abstoßung von Hybridität. Toni flößt Gustav eine „Mischung von Begierde und Angst“ ein. Während weiße Hautfarbe sein Vertrauen befestigt, löst die Wahrnehmung schwarzer Hautfarbe ‚Entsetzen‘ aus. Gustavs erotisches Begehren vermag den Abjektionsmechanismus außer Kraft zu setzen vermag. Attraktion und Abjektion gegenüber der im Text als ‚gelb‘ markierten Hybridfigur halten sich die Waage. Doch im blutigen Finale setzt sich ein „widerwärtiges und verdrießliches Gefühl“ durch.
Die ältere Forschung hat Kleists Novelle nachlässig behandelt. 2007 charakterisiert Gerhard Schulz Toni als „Eingeborene“, deren „Liebesopfer“ die Familie des Herrn Villeneuve gerettet habe (Kleist. Eine Biographie. München 2007, 151). Die ‚indigene‘ Bevölkerung Haitis war allerdings im 16. Jh. fast vollständig ausgerottet worden. In den vergangenen Jahren hat der Text die Aufmerksamkeit einer postkolonial informierten Literaturwissenschaft auf sich gezogen (Hansjörg Bay: Germanistik und (Post-)Kolonialismus. Zur Diskussion um Kleists „Verlobung in St. Domingo“. In: Axel Dunker (Hg.): (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Bielefeld 2005, 69-95). Diese Tendenz schlägt sich nieder in einem Sammelband, der aus einer Tagung an der Viadrina hervorgegangen ist (Reinhard Blänkner (Hg.): Die Verlobung in St. Domingo. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800. Würzburg 2013). Mein Referat wird den Gegenstand beleuchten vor dem Hintergrund einer Diskursanalyse der Rede über den „Neger“ um 1800 (Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Frankfurt a. M. 2014).
Die Untersuchung soll zeigen, wie die Abjektion, der Affekt des Ekels vor ‚Schwarzen‘ und ‚Hybridität‘ kultiviert wird. Dabei greife ich auf ein Konzept von Julia Kristeva zurück (Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York 1982). Das Abjekte ist das verabscheute Verdrängte anderer Diskurse. In Kleist Novelle drängt es zum Ausdruck, die literarische Problematisierung der Abjektion stellt die Machtspiele bloß, die Gustav mit den Prüfungsritualen betreibt, denen er Toni unterzieht.

Arne Klawitter (Waseda University):
Rechtgefühl und Gewalteskalation in Kleists Michael Kohlhaas
Gemeinhin wird in der Forschung, wie es der Erzähler in Kleists Michael Kohlhaas auf der ersten Seite auch nahelegt, davon ausgegangen, dass das maßlose Rechtgefühl des eigentlich „rechtschaffenen“ Rosshändlers Kohlhaas, dessen Protest zwar einen berechtigten Anlass hatte, jedoch in einen Rachefeldzug mündet, der außer Kontrolle gerät, ihn zum Räuber und Mörder machte. In dem Vortrag soll diese These u.a. in Hinblick auf das frühneuzeitliche Fehderecht überprüft und die Darstellung des Rechtgefühls hinsichtlich der verwendeten narrativen Techniken und wirkungsästhetischen Strategien untersucht werden (bis hin zur Darstellung entfesselter Gewalt und deren Funktion).
Indem die Leidenschaften und Affekte gleich zu Beginn vom Erzähler selbst auf das Recht bezogen (auf Rechtschaffenheit und den Anspruch auf Recht vor dem Gesetz), gibt die Erzählung gleichzeitig ein Interpretationsmuster für den Text vor und unterwirft die Gefühlsunordnung gewissermaßen einer diskursiven Ordnung und damit einer Kontrolle, was schließlich in die weithin anerkannte Deutung mündet, dass Kohlhaas sich unrechtlicher Mittel bediene, um (sein) Recht zu bekommen. Dem entgegen steht der Moment des Umschlagens von Rechtsgültigkeit und Rechtanspruch in exzessive Gewalt, die ihr politisch-historisches Pendant, wie F. Kittler (im Anschluss an Wolf Kittler) gezeigt hat, im Preußischen Landsturmedikt von 1813, der Volksbewaffnung sowie der „Jägertaktik“ kämpfender Bürger, was Kleist, selbst preußischer Offizier (Leutnant), in seinen Erzählungen Das Erdbeben von Chili (1807) und Michael Kohlhaas (1810) gewissermaßen vorwegnahm. Interessant scheint in dieser Hinsicht das Situationspotential einer Selbstbewaffnung, die Recht und Gesetz überhaupt in Frage stellt, d.h. dem rechtlichen System den Boden entzieht, weil es sich nicht als souverän und unumschränkt gültig, sondern als ein Mittel der Macht erweist, genauer gesagt: der Mächtigen, um ihre Macht zu sichern. An Kittlers Überlegungen anschließend, versuche ich die Praxis des Partisanen im Kohlhaas darzustellen und daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf Kleists eigene „Diskurspraxis“ zu ziehen.
Der Vortrag greift das Thema der Affektökonomie auf und verbindet es mit der Frage des Rechtanspruchs und dessen Durchsetzung. Aus dieser Perspektive gewinnen insbesondere die Gewalteskalation und ihre Darstellung an Bedeutung.

Thomas Pekar (Gakushuin University):
Das Paradies als paradoxe Strukturformel in Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili
Das Böse steht bei Kleist nicht mehr in einer binären Struktur dem Guten gegenüber (etwa, wie bei Kant, im Inneren des Menschen), sondern taucht in eigentümlichen Mischungsverhältnissen auf. Abhängig von schwankenden Affektlagen schlägt das Pegel mal hierhin, mal dahin aus, mal ins Böse/Katastrophale, mal ins Gute/Glückliche. Das Böse ist so kein Absolutum mehr, sondern das Ergebnis ambivalenter Affektlagen. Böse ist nicht die Differenz zum Guten, sondern die Möglichkeit zur Differenz selbst, also das Böse im Guten (wie das Gute im Bösen), die Gemengenlage und das Ununterscheidbare. Diese grundsätzlichen Einsichten werden im Vortrag auf Kleists Sicht des Paradieses übertragen, indem es zunächst einmal von seiner Beziehung zur Idylle abgelöst wird. Das Paradies soll hingegen als die ‚ganze‘ Geschichte von Adam und Eva verstanden werden, also als die Geschichte, die auch den Sündenfall und die sich daran anschließende Vertreibung aus dem Paradies umfasst. Im Vortrag wird am Beispiel von Kleists Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) diese grundsätzliche Ununterscheidbarkeit von gut/böse, d.h. also die Einheit von paradiesischem Glück und aus der Vertreibung aus dem Paradies resultierendes Unglück am Beispiel der Handlungsszenenfolge analysiert. Den einzelnen Szenen ist ihr Gegenteil jeweils latent eingeschrieben. In einem zweiten Schritt wird im Vortrag diese grundsätzliche Neubestimmung des Paradieses mit Kleist eher theoretischer Einschätzung des Paradieses verglichen, wie er sie in Über das Marionettentheater (1810) äußert. Am Schluss des Vortrags steht ein kurzer Ausblick auf Kafkas Konzeption des Paradieses. Die These hier ist, dass Kafka, in der Tradition Kleists stehend, die Entdifferenzierung von gut/böse in Hinsicht auf das Paradies noch weiter radikalisiert: Kafkas Werk ist radikale Ablehnung des Paradieses und doch unauflöslich durch Bezugnahmen aufs Paradies geprägt.
Der Vortrag orientiert sich an den Erkenntnisse der neueren Kleistforschung, die im Rahmen der Untersuchung der Affekte bei Kleist (vgl. vor allem das Kleist-Jb 2008/09), von einer „Dekonstruktion differenzlogischer Begriffsordnungen“ (vgl. Peter-André Alt) besonders in Hinsicht auf das Böse bei Kleist spricht. Diese Sicht wird in der paradoxen (d.h. gut/bösen) Struktur des Paradieses bestätigt.
Weiter orientiert sich der Vortrag an Überlegungen Stephen Greenblatts, der in seinem letzten Buch, The Rise and Fall of Adam und Eve (2017), überzeugend die anthropologische Fundamentalstellung (zumindest für einen Teil der Menschheit) dieses paradiesischen Mythos‘ aufgezeigt hat, der als solcher diese grundsätzliche ent-differenzierte doppelte bzw. paradoxe (gut/böse) Struktur aufweist.
Das Symposium stellt insgesamt die Frage nach der Affektökonomie bei Kleist: Mit der paradoxen Strukturformel des Paradieses wird ein mythologisches Modell gegegeben, wo eine solche paradoxe Affektregulierung vorgezeichnet ist. Kleists schwankende bzw. paradoxe Affektdarstellungen in Das Erdbeben in Chili werden so in Hinsicht auf ein mythologisches bzw. kulturelles Modell hin kontextualisiert. Diese Kontextualisierung steht im Vergleich zu den in den anderen Vorträgen genannten Gefühls- bzw. Affektordnungen Kleists, die dort auch anhand von anderen Texten Kleists diskutiert werden.

Hirosuke Tachibana (Universität Würzburg):
Der unkontrollierbare Gewaltausbruch der elektrisch aufgeladenen Nation.
Die Affektmanipulation und der Zufall in Kleists politischen Texten
Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ führt aus, wie produktiv der verunsicherte Gemütszustand ist. Wenn man nämlich im durch die situative Not gereizten Gemütszustand etwas redet, dann entsteht ein heilbringender Gedanke quasi von selbst. Dieser Gedankenverfertigung ist die reflexive, zielbewusste Planung vielmehr abträglich. Um diesen Prozess zu veranschaulichen, wird hier die Metapher der elektrischen Influenz eingeführt. Da die elektrische Auf- und Ausladung im zeitgenössischen experimentalphysischen Diskurs als plötzliches, der menschlichen Vernunft unerklärliches und unkontrollierbares Phänomen wahrgenommen wird (vgl. dazu Borgards: ›Allerneuester Erziehungsplan‹, 2005; Gamper: Elektrische Blitze, 2007), werden diese Charaktere mittels der Metapher auch dem Gedankenverfertigungsprozess zugeschrieben. Der daraus resultierende Gedanke ist ebenso wie das Ergebnis eines physikalischen Experiments nicht vorauszusehen. Dieselbe Metaphorik taucht auch in einem Abendblatt-Artikel auf, in dem Kleist über den Aufstand der deutschen Nation reflektiert. Hier wird die Nation dem Körper eines paralytischen Mannes vergleichbar gemacht, der in der äußersten Lebensgefahr, die ein „zufällig“ entstandenes Feuer herbeiführt, unbewusst die Gewalt manifestiert. Und dieser explosionsartige Gewaltausbruch eines menschlichen Körpers ist es, der hier mit der Elektrizität analog gemacht wird. Durch diese doppelte Metaphorisierung wird auch der Gewaltausbruch der Nation als ein unkontrollierbares Phänomen vorgestellt, dessen Verwirklichung von der zufällig einbrechenden Gefahr abhängig ist, die ihren Gemütszustand elektrisch affiziert, um sie dann explodieren zu lassen. In meinem Referat gilt es, von diesem Bild des politischen Kollektivs ausgehend, Kleists Drama „Die Hermannsschlacht“ zu analysieren. Im Zentrum der Überlegungen soll die Figur des Hermann stehen, deren propagandistische Strategien darauf abzielen, den Affekt der Germanen, d. h. den Hass gegen den Feind, anzustacheln. Bemerkenswert ist, dass Hermann selbst, der mit einer schwer zu kontrollierenden Menschenmenge umgehen muss, die Gemütsverwirrung und den spielerischen Hang zum Zufall ausweist (vgl. auch Kreuzer: Die Utopie vom Vaterland, 1992). Dies hängt damit zusammen, dass sich Hermann mit der Aufgabe befasst, Unberechenbares zu berechnen.
In der Forschung wird Kleists Hermann oft als kaltblütiger Stratege betrachtet, der den ganzen Vorgang geschickt und zielbewusst steuert (vgl. Blamberger: „Kleist“, 2011; Vinken: „Bestien“, 2012). Entsprechend wird das Problem des Zufalls wenig berücksichtigt. Das Referat soll auf diesen Punkt Licht werfen, indem es dieses Problem mit dem der Menschenmenge in Verbindung bringt, die in Kleists Texten oft eine entscheidende Rolle spielt. Kleists Texte werden dabei in Hinblick auf die politischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Diskurse kontextualisiert. Um Kleists politische Metaphorik zu beleuchten, werden auch einige Metaphern-Theorien (Koschorke, Lüdemann u.a.) herangezogen.
Indem das Referat den Affekt der Menge zum Gegenstand macht, trägt es dazu bei, die politische Bedeutung der Affekte zu beleuchten.